„Mach aus Deinem Herzen keine Mördergrube“ empfiehlt der Volksmund und weiß darüber hinaus, falls das doch passiert, dass es den einen „Tropfen“ gibt, „der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“.
Unsere Vorfahren haben damit das Rabattmarkenmodell aus der Transaktionsanalyse von Eric Berne bereits vorweggenommen.
Was sind Rabattmarken?
Viele verbinden mit dem Begriff „Rabatt“ etwas Positives: so erhalten wir beispielsweise im Kleidergeschäft zur „Sales“-Zeit einen Rabatt, also eine Kostenermäßigung, wenn wir 3 Hosen zum Preis von 2 kaufen, manch ein Friseur, Café oder Geschäft bietet nach dem zehnten Einkauf eine günstigere Frisur, einen geschenkten Kaffee oder was auch immer an. In diesem Fall müssen wir also Rabatte sammeln. In der Regel geschieht dies über ein Stempeln oder über Marken zum Einkleben in ein Sammelheft.
Doch was hat das alles mit Eric Berne beziehungsweise der Mördergrube zu tun?
Bedauerlicherweise sammeln wir Menschen nicht nur Schönes, sondern manchmal eben auch Negatives. Im Falle des Rabattmarkenmodells aus der Transaktionsanalyse bedeutet es, dass wir immer wieder kleinere Einzelsituationen erleben, in denen wir uns über das Verhalten eines anderen ärgern oder enttäuscht sind. Besprechen wir diese jeweiligen kleineren Irritations- oder Ärgermomente mit dem Gegenüber nicht, sondern machen diese mit uns aus, entstehen nach und nach für uns unschöne Gefühlserlebnisse mit dieser Person, die etwas an unserer Einstellung, dem Verhalten und unseren Gefühlen gegenüber der Person ändern. Zunächst vielleicht nicht sichtbar und auch nicht spürbar, vielleicht rutschen einzelne Erfahrungen auch wieder aus unserem Bewusstsein.
Doch aus verschiedenen kleineren Einzelsituationen, in denen wir uns über ein Verhalten eines anderen geärgert haben oder davon irritiert waren und dies nicht mit ihm oder ihr besprochen haben, wird sich irgendwann ein großer Ärger anstauen. Wir kleben sozusagen einzelne Ärgererfahrungen (oder Gefühlserfahrungen: Enttäuschung, Sorge/Angst) in ein – je nach Typus und Fall – virtuelles Rabattmarkenheft oder ‑buch oder gar ein mehrbändiges Album.
Ist unser persönliches Rabattmarkenheft voll, ist der Moment da, in dem der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt, und alle – auch die scheinbar vergessenen Erlebensmomente – kommen wieder hoch. Die Ärgersammlung wird eingelöst, häufig mit einer heftigen, sehr emotionalen, unsachlichen und anklagenden Gefühlsexplosion, in der dem Gegenüber alle Ärgernisse (Gefühle) regelrecht um die Ohren fliegen. Aus Sicht des Sammelnden absolut gerechtfertigt, weil er für sich diese verschiedenen Erlebnisse abgespeichert hat. Aus Sicht des Gegenübers völlig überraschend und ungerechtfertigt. Schließlich hat er vom Prozess des Sammelns und den Erfahrungsideen des Sammelnden nichts mitbekommen.
Die erste Rabattmarke – die Sammlung beginnt
Veranschaulichen wir das an einem Beispiel und stellen wir uns vor, dass Frau Meier und ihre Stellvertreterin Frau Müller ein recht gutes Verhältnis haben: sie arbeiten gut zusammen, vertreten sich im Urlaubs- und Krankheitsfall, gehen ab und zu zusammen in die Kantine und unterhalten sich auch mal privat.
Eines Morgens geht Frau Meier gut gelaunt auf Frau Müller zu und grüßt freundlich. Normalerweise bleiben beide stehen und unterhalten sich kurz. An diesem Morgen verzieht Frau Müller aber keine Miene, macht keine Anstalten stehen zu bleiben, sondern ringt sich lediglich einen kurzen, kaum hörbaren Gruß ab.
Das irritiert Frau Meier, sie fängt an zu grübeln, was los sein könnte, was sie falsch gemacht haben könnte, ob sie Frau Müller verärgert haben könnte, etc.
Frau Meier verbindet mit dieser kurzen Wahrnehmung unmittelbar ein negatives Gefühl.
Natürlich könnte Frau Meier jetzt auf Frau Müller zugehen und sie einfach fragen, was los ist.
Doch das macht sie nicht, und sie findet zig Gründe dafür, warum nicht: „das ist jetzt nicht der richtige Moment“, „ich bin jetzt viel zu aufgewühlt dafür“ oder „vielleicht überinterpretiere ich jetzt etwas“.
Was stattdessen passiert ist, dass eine situative Wahrnehmung mit einer negativen Bewertung und einem Gefühl von Ärger oder Missstimmung bleibt und in ein virtuelles Ärger-Rabattmarkenheft eingeklebt wird.
Das Rabattmarkenheft füllt sich
Natürlich können kleinere Marken in Vergessenheit geraten. Doch wenn wir im Laufe der Zeit mehrere Marken sammeln, wird irgendwann einmal unser Rabattmarkenheft voll sein und es zu entsprechenden Reaktionen und Eskalationen kommen.
Schauen wir uns also unser Beispiel von Frau Meier und Frau Müller an, so folgen auf die für Meier irritierende, erste Erfahrung von einem nur knappen Gruß und einem Ausbleiben eines Small Talks weitere Wahrnehmungen: sie erlebt, dass Frau Müller ihre Anfrage ausschlägt, zusammen in die Kantine zu gehen, dass diese sich eine Woche später mit dem gemeinsamen Vorgesetzten Herrn Schmidt unterhält und das Gespräch scheinbar abrupt unterbricht, als sie näher kommt, dass sie bei einer Präsentation von Frau Meier anfängt am Handy rumzuspielen, etc.
Frau Meier fühlt sich zunehmend zurückgesetzt, traurig, gekränkt und verärgert. Ihr Gedankenkarussell dreht sich, doch sie fragt nicht bei Frau Müller nach.
Vielmehr sammelt sie jede neue Wahrnehmung als neuen Ärgerpunkt in ihrem Rabattmarkenheft.
Variante 1: Vom Rabattmarkensammeln zur Eskalation
Schließlich kommt der Tag, an dem ihr Rabattmarkenheft voll ist oder – um wieder den Volksmund zu zitieren – an dem ein letzter Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt.
An diesem Tag kommt Frau Müller mit zehnminütiger Verspätung zu einer Besprechung. Eigentlich eine Kleinigkeit, doch da Frau Meier in den letzten Wochen so viele Rabattmarken angesammelt hat, ist für sie heute der Tag des Einlösens gekommen. Sie flippt aus und wirft Frau Müller von schlechter Arbeitsmoral über fehlende Kollegialität und Illoyalität so ziemlich alles an den Kopf, was sich angestaut hat. Die Situation eskaliert vollkommen.
Während der ganzen Zeit hat Frau Müller nichts davon mitbekommen, dass Frau Meier Ärgerpunkte gesammelt hat bzw. ihr wiederkehrende Gefühlsrabatte gegeben hat. An dem Tag, als sie mit nur knappem Gruß an Frau Meier vorbeigegangen war, hatte sie einen wichtigen Kundentermin und war mit dem Gedanken schon bei dem anstehenden Telefonat gewesen, ihr Gespräch mit Herrn Schmidt, dessen scheinbar abruptes Ende Frau Meier mit ihrem Erscheinen in Verbindung gebracht hatte, war bereits zu Ende gewesen, als diese auftauchte, ihr „Herumspielen“ am Handy während der Präsentation von Frau Meier lag nicht an Desinteresse sondern daran, dass ihr kleiner Sohn krank alleine zuhause war und zwischendurch etwas Aufmerksamkeit brauchte. Dies war auch der Grund, weshalb sie einige Male nicht in die Kantine gehen wollte, sondern sich nur eine kurze Pause am Schreibtisch gönnte.
Der Gefühlsausbruch von Frau Meier trifft sie daher völlig unvorbereitet und aus ihrer Sicht natürlich ungerechtfertigt. Deren Vorwürfe kann und will sie nicht auf sich sitzen lassen. Der scharfe Ton von Frau Meier provoziert sie und lädt sie ihrerseits ein, heftig Contra zu geben und ihre eigenen Rabattmarken einzulösen.
Variante 2: Von der einzelnen Rabattmarke zum kalten Konflikt
Doch nicht bei jedem und nicht immer kommt der Tag des Einlösens. Abhängig von der Persönlichkeit und der Art der gegenseitigen Beziehung könnte es auch sein, dass anstelle eines eskalierenden Streits ein Abbau oder Abkühlen der Beziehung eintritt, wenn beispielsweise als Reaktion auf eine mit Ärger/Irritation/Frust erlebte Wahrnehmung der Rabattmarkensammler beschließt den Kontakt zu vermeiden und sich zurückzieht und der andere hier keine Anstrengung unternimmt gegenzusteuern.
Wie Sie vermeiden können, Rabattmarken zu sammeln
Challenge 1: Bemerken Sie, wenn Sie dabei sind Rabattmarken zu sammeln. Häufig sind wir so geübt darin, kleinere Ärgernisse beiseitezuschieben, dass wir für diesen Automatismus zunächst wieder Bewusstsein erlangen müssen. Versuchen Sie daher, ein Gespür für ihre Gefühlsreaktionen zu entwickeln und rufen Sie sich gerne häufiger mal ein „Achtung Rabattmarke“ zu, wenn sie eine Situation wahrnehmen, in der Sie Ärger, Frust, Trauer oder Irritation über das Verhalten des anderen erleben.
Challenge 2: Erkennen Sie Ihre Ausreden dafür, den anderen nicht anzusprechen. Gründe, etwas was uns am Verhalten des anderen stört, nicht anzusprechen, gibt es genügend: man hat gerade keine Zeit oder sagt sich, dass man nur das Gras wachsen höre oder man will den anderen nicht verletzen oder möchte doch lieber noch eine Nacht darüber schlafen, etc.. Wenn man wollte, könnte man wahrscheinlich Dutzende Gründe dafür nennen. Nur es hilft bringt uns leider nicht aus der Rabattmarkensammelspirale. Vielleicht sammeln Sie daher mal für sich ihre persönlichen Gründe, weshalb sie nicht ansprechen. Schreiben Sie sie auf – und nutzen sie dann als Erkennungsmerkmal dafür, dass sie genau jetzt dabei sind, Rabattmarken zu sammeln. Und dann natürlich: auf zur nächsten Challenge!
Challenge 3: Sprechen Sie häufiger Missstimmungen an. Werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, denn Sie wissen jetzt, wohin das Sammeln von Rabattmarken führen kann. Und Sie wissen, dass Sie – und nur Sie — es in Ihrer Hand haben, diese Ärger- und Konfliktspirale zu unterbrechen. Der Vorteil ist, wenn man Einzelsituationen und damit kleineren, konkreteren Ärger anspricht, ist die Chance, dies sachlich zu tun sehr groß. Das Einlösen von Rabattmarkenheften hingegen ist immer geprägt von hoher Emotionalität, geballter Energie eines ganzen Sammelalbums und pauschalen Vorwürfen. Ein eskalierender Konflikt ist vorprogrammiert.
Im Bild der am Anfang erwähnten Redensart wären die Rabattmärkchen viele kleine messerbewaffnete Mörder, die man in die Höhle oder Grube des eigenen Herzens lässt, und die erst ausbrechen und gefährliche Überfälle wagen, wenn sie eine große Bande sind.
Lassen Sie aus Ihrem Herzen also keine Mördergrube werden, sondern nutzen Sie die Chance, kleine Irritationen und größere Ärgernisse gleich zu klären – für Ihr eigenes Wohlbefinden und für angenehme, geklärte Beziehungen.
Hören Sie dazu auch den aktuellen Podcast von Dirk Taglieber zum Thema Rabattmarken und Beziehungsgestaltung.